22.09.2016
   

IAA-Nutzfahrzeuge

Die Knautschzone um den Lkw herum

Auf der Nutzfahrzeug-IAA stellt Mercedes den ersten serienreifen Tot-Winkel-Warner beim Rechtsabbiegen für Lkw vor.

Wenn schwere Lkw in Unfälle verwickelt sind, sind die Folgen oft verheerend. In den meisten Fällen ist menschliches Versagen zumindest mitursächlich. Der nächste Schritt zur Reduzierung der Unfallzahlen ist in der Entwicklung oder gar schon im Einsatz: Es gilt, quasi eine virtuelle Knautschzone um den Lkw herum zu entwickeln, wie auch die Neuheiten der aktuellen IAA Nutzfahrzeuge (bis 29. September) in Hannover zeigen.

Die Festigkeit der Lkw-Fahrerkabine, Sicherheitsgurt, Airbag oder Seitenaufprall-Schutz bei einem Unfall mit Zweiradfahrern oder Fußgängern standen in den vergangenen Jahrzehnten in Sachen Sicherheit im Vordergrund. Von der passiven Sicherheitstechnik sind jedoch künftig kaum signifikante Verbesserungen in Sachen weniger Todesfälle zu erwarten. Deshalb setzen Hersteller und Zulieferer auf aktive Sicherheitstechnik.

Nach Einschätzung des Zulieferers Bosch können 90 Prozent aller Lkw-Unfälle mit Assistenzsystemen vermieden werden. Auf 5.900 Crashs bezogen, die schwere Nutzfahrzeuge in Deutschland verursacht haben bedeutet das: 3.300 von ihnen hätten laut Bosch-Unfallforschung durch bereits etablierte Systeme wie ESP oder Notbremsassistenten, 2.100 durch künftige Funktionen wie Rangier- oder Abbiegeassistenten verhindert werden können.

Nicht ohne Grund schreibt die EU seit November 2015 Notbremsassistenten für alle neuzugelassenen Lkw vor. Die Auffahrunfälle sind nicht nur das Schreckensszenario jedes Autofahrers, sondern mit einem Anteil von rund einem Drittel auch ein Schwerpunkt des Lkw-Unfallgeschehens. Das Statistische Bundesamt weist Abstandsverstöße als größte Fehlerquelle für Lkw-Unfälle aus.

Dass Fahrerassistenzsysteme eine große Wirkung erzielen können, ermittelte unter anderem die Unfallforschung der Versicherer (UDV) in einer in einem mehrjährigen Forschungsprojekt auf Basis der den Assekuranzen gemeldeten Unfälle. Mit dem System, das stehende Fahrzeuge auf Kollisionskurs erfasst, wären mehr als die Hälfte der von den Versicherern registrierten Auffahrunfälle nicht passiert. Andere Untersuchungen halten die typischen Auffahrunfälle mit einem leistungsfähigen Notbremsassistenten sogar in 80 bis 90 Prozent der Fälle für vermeidbar.

Heutige Systeme können mehr als von der EU vorgeschrieben. Die Zulieferer ZF und Wabco stellen auf der IAA eine Technik vor, die den Truck automatisiert am Stauende vorbeilenkt. Der plötzliche Spurwechsel während einer Notbremsung wäre für menschliche Fahrer extrem schwierig. Das Assistenzsystem beherrscht das stabile Ausweichen dank Vernetzung mit den Stabilitätssystemen von Zugfahrzeug und Anhängern jedoch problemlos. Noch ist der so genannte Evasive Maneuver Assist (EMA) auf den Fahrer angewiesen, er muss per Lenkimpuls signalisieren, wohin ausgewichen werden soll.

Auch für den Stadtverkehr ist eine automatische Notbremse mittlerweile adaptiert, so stellt Mercedes zum Beispiel einen Notbremsassistenten mit Fußgängererkennung auf der IAA vor. Hier setzt die Lkw-Sparte auf Technologie-Transfer aus dem Pkw-Bereich: Vorn am Laster kommt das gleiche Radarsystem wie bei der E-Klasse zum Einsatz. Im Gegensatz zu einem kamerabasierten System ist es unabhängig von Lichtverhältnissen und laut Mercedes weitgehend unabhängig von der Witterung.

15 bis 25 Prozent der Getöteten bei Lkw-Unfällen sind laut Volvo-Trucks-Unfallforschung ungeschützte Verkehrsteilnehmer, also beispielsweise Fußgänger und Fahrradfahrer. Horrorszenario für alle Beteiligten: Lkw übersieht Fahrradfahrer beim Rechtsabbiegen. Nachdem schon viele Prototypen verschiedener Hersteller vorgestellt wurden, bringt Mercedes nun mit der IAA das erste System in Serie, das den Toten Winkel beim Rechtsabbiegen überwacht. Das Unternehmen setzt beim Abbiege-Assistenten auf ein selbstentwickeltes Radarsystem: Zwei Nahbereichs-Radarsensoren, untergebracht in einem schwarzen Kasten unten auf der Beifahrerseite, ergänzen sich im Blickwinkel. So kann das System die komplette Länge des Lkw, inklusive Auflieger oder Anhänger, überwachen, plus zwei Meter nach vor und einen Meter hinter dem Truck. Die seitliche Überwachungszone hat eine Breite von 3,75 Metern, was etwa einer Autobahnfahrspur entspricht. Laut UDV-Untersuchung könnten immerhin 43 Prozent dieser Unfälle durch den Abbiege-Assistenten vermieden werden.

Als weitere Entwicklungsstufe der Assistenzsysteme steht das automatisierte Fahren am Horizont und damit untrennbar verbunden der vernetzte Lkw. Überwachen die Systeme mit Hilfe von Kameras, Radar- und Laser-Sensoren erst einmal die komplette nähere und weitere Umgebung des Trucks, lassen sie quasi eine virtuelle Knautschzone entstehen. Dann gibt es – zumindest in der Theorie - keine Toten Winkel mehr, keine zu späte Reaktion auf Manöver des Vordermannes und kein Abkommen von der Straße. Sind alle Fahrzeuge vernetzt, gehören das unvermittelt hinter einer Kurve auftauchende Stauende oder das überraschend auftretende Blitzeis ebenfalls der Vergangenheit an – beziehungsweise die Überraschung und mögliche Fehlreaktion auf die plötzlichen Ereignisse.

Allen spannenden Neuentwicklungen zum Trotz wird es aller Voraussicht nach weiterhin Unfälle geben, die passiven Sicherheitsmaßnahmen geraten deshalb nicht aus dem Fokus: Auf der IAA stellt Scania beispielsweise Seitenairbags vor, die Unfallfolgen für Fahrer und Beifahrer beim Umkippen des Lkw mindern sollen. Die großen Luftkissen, die sich über die komplette Fensterhöhe und –breite spannen, soll die Zahl getöteter Fahrer nach Überschlagsunfällen erheblich reduzieren.

Einen passiven Lebensretter hat zudem jeder Lkw an Bord, er muss nur genutzt werden: der Sicherheitsgurt. So ist die Anschnallquote zwar in den vergangenen Jahren gestiegen, sie liegt aber mit 90 Prozent (2014, Quelle: Bast) immer noch unter der von Pkw (98 Prozent). Die Volvo-Unfallforscher schätzen, dass mindestens die Hälfte der nicht angeschnallten Lkw-Fahrer, die bei einem Crash tödlich verunglücken, mit angelegtem Sicherheitsgurt überlebt hätte. (Hanne Schweitzer/SP-X)


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