09.06.2016
   

Wohnmobil-Crashtest

Die Masse macht's

Unfälle mit Wohnmobilen sind selten, aber oft verheerend

Der Augenzeuge eines Unfalls kennt das Gefühl: Für einen kurzen Moment ist es als bliebe einem das Herz stehen, man erstarrt, holt tief Luft, kann nicht glauben, was da gerade passiert ist. Auf dem Crashtestcenter, der besseren Übersicht wegen erhöht stehend und von einer Plexiglasscheibe abgeschirmt, wenn ein heiseres Summen den bevorstehenden Auffahrunfall ankündigt, sollte es anders sein. Doch wenn das leicht überladene Wohnmobil mit rund 70 km/h auf das Heck des stehenden Pkw kracht, ist der Lärm doch ohrenbetäubender und der Schreckmoment eindrücklicher als gedacht.

Das Szenario ist nach Erkenntnissen der Unfallforschung der Versicherer (UDV) ein typisches, dessen Augenzeuge man jederzeit auf der Autobahn werden könnte – wenn auch die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch ist. Verglichen mit anderen Fahrzeugarten passieren in Deutschland relativ wenige Unfälle mit Wohnmobilen. 544-mal sind im vergangenen Jahr Wohnmobile verunfallt und dabei Menschen verletzt oder getötet worden. Das entspricht einem Anteil von 0,18 Prozent an allen Unfällen mit Personenschaden, Pkw-Crashs machen mehr als 80 Prozent aus.

Trotzdem ist diese Unfallart nicht vernachlässigbar, findet die UDV. Zum einen, weil die Zahl zugelassenen Wohnmobile steigt. Von 2009 bis 2014 verzeichnete das Kraftfahrt-Bundesamt einen Anstieg von 13 Prozent auf 369.087 angemeldete Reisemobile. Zum anderen, weil viele typische Unfälle vermeidbar wären oder zumindest die Verletzungsschwere verringert werden könnte – auch, indem die Wohnmobil-Besitzer mithelfen.

Nicht nur Wohnmobil-Insassen gefährdet

Dass bei einem Unfall längst nicht nur die Wohnmobil-Insassen selbst gefährdet sind, zeigt der Crashtest auf dem Gelände der Organisation CTS nahe Münster eindrücklich - im Wortsinn: Das mit 70 km/h anrauschende Wohnmobil bohrt sich ins Heck seines Vordermanns und schleudert den Pkw mehr als 20 Meter nach vorn.

Als die Fahrzeuge zum Stehen gekommen sind, sieht man das Ausmaß des Schadens: Während die Front des Reisewagens eingedrückt ist, hat sich das Heck des Pkw bis auf Höhe der Hinterreifen geschoben – es ist quasi nicht mehr vorhanden. Die Fahrersitzlehne hat es aus ihrer aufrechten Stellung gerissen, darauf liegt der Fahrer-Dummy, der schwere Wirbelsäulen-Verletzungen davongetragen haben dürfte. Die Statistik zeigt, dass die Folgen für den Unfallgegner oft gravierender sind als für die Insassen des Reisemobils: Von den 2014 bei Wohnmobil-Unfällen Getöteten waren vier im Reisemobil selbst, aber elf bei den Unfallbeteiligten zu verzeichnen, so die Unfallforscher. Die Masseverhältnisse sind ein entscheidender Faktor.

Die vorderen Insassen im Wohnmobil haben es im Versuch aber nur vermeintlich besser getroffen: "Angegurtet sollten sie eigentlich eher leichtere Verletzungen davon getragen haben", sagt Matthias Kühn, bei der UDV verantwortlich für die Fahrzeugsicherheit. "Aber die Umstände sind entscheidend." Denn für sie ist die herumfliegende Ladung die größte Gefahr.

Und wer genauer hinsieht, erkennt, dass die Dummy-Urlauber im Crashmobil diesbezüglich viele Fehler gemacht haben, bei denen sich auch echte Wohnmobil-Reisende ertappen dürften: Vor dem Crash waren drei Wasserkisten hinten im Fahrzeug gestapelt – aber nicht gesichert. Kisten, Flaschen, aber auch das zum Trocknen neben der Spüle deponierte Geschirr sind beim Crash nach vorn geflogen. Treffen sie aufgrund der Beschleunigung mit dem Vielfachen ihres Gewichts die Passagiere, sind schwere Verletzungen programmiert.

Auch die 20 Kilo schwere, ungesicherte Luna, der Hunde-Dummy, wird so zur Gefahr und Gefährdeten: Sie ist beim Crash einmal durch das komplette Wohnmobil geflogen und mit rund 30 km/h vorn zwischen den Herrchen aufgeprallt. Prognose: tot. Auch für den dritten, hinten nicht angeschnallten Mitfahrer sieht es nicht gut aus: Er ist unter die Tischplatte gerutscht und mit dem Kopf angeschlagen. Hinten ist statistisch die Wahrscheinlichkeit ein Drittel höher, bei einem Unfall verletzt zu werden – auch, weil dort die Rückhaltesysteme längst nicht immer dem neusten Stand entsprechen.

Auffahrunfälle auf Landstraßen und Autobahnen

Während die Forscher das Fahrverhalten von Wohnmobilen auch im Grenzbereich als unkritisch bewerteten, ist es vor allem eine Unfallart, bei der es zu schweren Verletzungen und Todesfällen kommt: Auffahrunfälle auf Landstraßen und Autobahnen. "Viele davon müssten nicht sein, wenn Wohnmobile mit Bremsen nahe am Pkw-Niveau ausgerüstet und Fahrzeuge oft nicht auch noch überladen wären", sagt UDV-Leiter Siegfried Brockmann.

Fahrversuche der Unfallforscher zeigten, dass ein Wohnmobil frühestens nach 50 bis 55 Metern, unter realistischen Bedingungen nach mehr als 60 Metern zum Stehen kommt – rund ein Drittel später als Pkw. Da spielt hinein, dass die Fahrer nur in wenigen Wochen des Jahres ihr Wohnmobil bewegen und noch auf die Bremswirkung ihres Pkw eingestellt sind. Stärkere Bremsen und die Ausstattung mit Notbremsassistenten könnten nach Meinung des UDV eine Lösung sein. Allerdings eine, die in weiter Ferne liegt – vor dem Hintergrund, dass Wohnmobile üblicherweise auf kostenoptimierten Nutzfahrzeug-Fahrgestellen aufbauen.

Neben der Ladungssicherung ist die maximale Beladung ein entscheidender Faktor, auf den der Wohmobil-Fahrer Einfluss hat. Im Rahmen der Unfallforschung hat die UDV die Polizei bei Beladungskontrollen begleitet, das Ergebnis: Rund die Hälfte der überprüften Fahrzeuge war überladen, davon jeder fuhr jeder zehnte mehr als zehn Prozent zu viel Gewicht herum. Vielen Fahrern sei das überhaupt nicht bewusst gewesen, so Brockmann. So seien zum Beispiel viele mit komplett vollen Wassertanks unterwegs gewesen – eigentlich unnötig, da man sie am nächsten Campingplatz wieder auffüllen kann.

Die Unfallforscher empfehlen, vor der Urlaubsfahrt beispielsweise zu einer Prüforganisation zu fahren und dort das Wohnmobil wiegen zu lassen. Und schon beim Kauf nachzufragen, wie viel man bis zur 3,5-Tonnen-Grenze zuladen kann: „Die Ausstattung wird immer besser, da bleibt immer weniger Luft nach oben zum Beladen übrig“, sagt Unfallforscher Kühn. Auch die Reifen der Reisemobile stellen seiner Ansicht nach einen Risikofaktor dar: Ist durch die Nutzung an wenigen Wochen im Jahr zwar das Profil noch vorhanden, kann trotzdem die Gummimischung schon so verhärtet sein, dass Straßenkontakt und Bremsleistung sich deutlich verschlechtern oder der Reifen sogar platzt.

Die Unfallforscher wollen die steigende Anzahl von Wohnmobilisten mit ihren Forschungsergebnissen für diese sicherheitsrelevanten Themen sensibilisieren. Und wer sich die Crashtest-Bilder mit der gewaltigen Zerstörung anschaut, versteht auch, warum. (sp-x)


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